Erkenne Dich selbst

Eine Aufforderung, welche sich durch die Geschichte der Menschheit zieht. Ein großer Satz, welcher nahezu unendlich viele verschiedene Blickwinkel und Interpretationen zulässt. Ein Satz, der in der Verhandlungsberatung in allen seinen Formen jedoch von essenzieller Bedeutung ist.

Die eigenen Grenzen kennen

„Gnothi seauton“ („Erkenne, was du bist“) lautet der Text einer altgriechischen Inschrift, die einer der sieben Weisen des antiken Griechenlands Chilon von Sparta in einen Tempel des Apollon eingravieren ließ. Der Spruch diente auch oft als Warnung vor der Überschätzung individueller Möglichkeiten und sollte überheblichen Personen die eigene „zerbrechliche“ Menschlichkeit vor Augen führen. Auf Verhandlungen und die heutige Welt übertragen hat der Spruch allerdings nichts von seiner Aktualität verloren: Wer erfolgreich verhandeln will, muss sich darüber bewusst sein, wo die eigenen Stärken liegen, aber ebenso wissen, wo die Grenzen der eigenen Möglichkeiten liegen. Genauso wichtig ist es zu wissen, wie man persönlich auf bestimmte Handlungen des Gegenübers reagiert und wie man durch seine eigenen und teilweise unbewussten Verhaltensweisen den Verhandlungsprozess beeinflusst.

Die Verhandlung als Chance zur Selbstreflexion

In jeder Verhandlung beeinflussen unausgesprochene und unbewusst ablaufende Prozesse das Verhalten der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Egal ob es sich um bestimmte Wertehaltungen, Menschenbilder oder unbewusste Verhaltensmuster handelt: Gerade im Rahmen wirtschaftlicher Verhandlungen nehmen diese unausgesprochenen und unbewussten Phänomene einen maßgeblichen Einfluss auf das Verhalten aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer und damit auch auf das Verhandlungsergebnis. Das Problem hierbei ist, dass man sich nur in sehr seltenen Fällen den eigenen Verhaltensweisen bewusst ist.

Die blinden Flecken beseitigen

Es ist ein Teil der En GardE-Trainingsphilosophie den Menschen in unseren Ausbildungen auch einen Einblick in eigene unbewusste Verhaltensweisen zu geben und somit die blinden Flecken Stück für Stück aufzudecken. Wir versuchen somit in der Begleitung von Menschen Selbstbewusstsein im ureigentlichen Sinne zu erzeugen: Ist mir überhaupt bewusst, warum ich bestimmte Verhaltensweisen in spezifischen Situationen zeige? Bin ich mir der möglichen Reaktionen auf mein Handeln bewusst und ist mir klar, dass ich diese Reaktionen verursache? In unseren Trainings sehen wir, dass Personen, die sich selbst bewusst sind, immer sensibler dafür werden, was das eigene Verhalten auslösen kann.

Hier ein Beispiel aus unserem Trainingsalltag, mit dem wir besonders häufig konfrontiert sind: Ein Teilnehmer unseres Trainings war sich selbst gar nicht darüber bewusst, dass sein ständiges Unterbrechen immer dazu geführt hat, dass sein Gegenüber blockierte und sofort alle seine Vorschläge abblockte. Als wir ihn im Rahmen unseres Verhandlungstrainings darauf hingewiesen haben, wurde ihm das Störende an seinem Verhalten unmittelbar bewusst. Seitdem ist dieser Verhandler einer unseren aktivsten Zuhörer und verhandelt deutlich besser mit mehr Erfolg. Er schafft es dadurch nicht nur die Interessen der Gegenseite besser nachzuvollziehen, sondern vergrößert die Handlungsspielräume auch für die eigenen Verhandlungsziele. Er erzielt schlussendlich bessere Ergebnisse.

selbst-bewusste Verhandlerinnen und Verhandler

Ein selbstbewusster Verhandler und eine selbstbewusste Verhanlderin im En GardE-Sinne beginnen für das eigene Verhalten Verantwortung zu übernehmen und Selbstwirksamkeit zu erfahren. In der Psychologie spricht man auch von internaler Attribution. Erfolge werden der eigenen Leistung und dem eigenen Können zugeschrieben, aber auch bei Misserfolgen oder nicht erbrachten Leistungen wird eher die eigene mangelnde Anstrengung und Vorbereitung als Maßstab herangezogen. Das hat zum Beispiel während einer Verhandlung den Effekt, dass bei Aspekten, auf denen sich die Partner auf keine Lösung einigen können, einfach die eigenen Anstrengungen erhöht werden, anstatt sich auf Zufälle oder äußere Umstände zu verlassen, wie bei Menschen, die dazu neigen, external zu attribuieren. En GardE Verhanlderinnen und Verhandler können daher sowohl Verantwortung für das eigene Verhalten übernehmen, wissen aber auch, dass Verhandlungserfolge durch ihre eigene Leistung zu Stande kamen und Glück und Zufall keine Rolle spielten. Sie lernen sich selbst besser kennen.

Selbstbewusste Verhandlerinnen und Verhandler werden sich darüber bewusst, dass zwischen dem Reiz und der eigenen Reaktion auf diesen ein Raum existiert, in welchem ein Entscheidungsspielraum besteht. Innerhalb dieses Raumes haben Verhandlerinnen und Verhandler Einfluss darauf, wie auf bestimmte Dinge reagiert werden kann oder wie sie bestimmte Reaktionen zum Ausdruck bringen wollen. Wie groß dieser Spielraum ist, ist zwar von Mensch zu Mensch und von Verhandlungstemperament zu Verhandlungstemperament unterschiedlich. Die gute Nachricht aber ist: Dieser Raum ist durch Übung und das passende Training erweiterbar.

Die eigene Reaktivität bewusst wahrnehmen

Einfach ist das jedoch nicht. Es ist schwierig, die Verantwortung für die eigene Reaktivität zu übernehmen. Es ist deutlich einfacher, alles und jeden für die eigene Wut, die eigene Verzweiflung oder Tatenlosigkeit verantwortlich zu machen, nur nicht sich selbst oder das eigene Verhalten. Unserer Erfahrung nach gibt es jedoch in Verhandlungen nahezu nichts Wichtigeres als dieses Selbstbewusstsein. Die beste Strategie, das größte Prozesswissen oder auch das detaillierteste Fachwissen bringt nur wenig, wenn man immer das Opfer der eigenen unbewussten Reaktivität ist. Wer immer auf eine bestimmte Weise reagiert, wenn er durch einen spezifischen Reiz getriggert wird, ist schnell ein Opfer von Manipulation durch die Gegenseite. Gute Verhandlerinnen und Verhandler sind auch immer ausgezeichnete Menschenkenner und warten nur darauf, dass sie auf Personen stoßen, die vorhersehbare Verhaltensweisen zeigen und sich diesen erst gar nicht dessen bewusst sind. Wenn Sie sich provozieren und aus der Reserve locken lassen und ausschließlich ihrer Gegenseite die Schuld für Ihre Reaktion geben, wird Ihr Verhandlungsergebnis darunter leiden.

Verhandlungen können schon herausfordernd genug sein, wenn es darum nur geht, die Reaktionen und möglichen Verhaltensweisen seines Verhandlungspartners zu antizipieren. Es ist also ratsam, sich selbst und die eigenen Verhaltensweisen im Rahmen von Verhandlungen genau kennenzulernen. Allein das reicht oft schon aus, dass man das eigene Verhandlungsergebnis deutlich verbessert.

Autor: Bernd Schnabl