Welche Strategien zum Staatsvertrag führten

Die Verhandler der österreichischen Bundesregierung verhandelten vor 66 Jahren einen Staatsvertrag gegen die Übermacht der dominierenden Großmächte aus. Die Neutralität war dabei der entscheidende Faktor, der das Entstehen einer unabhängigen österreichischen Nation überhaupt erst möglich machte. Welche Strategien sie dabei anwandten, lesen Sie hier.

Eine schwierige Verhandlungsposition als Ausgangslage

Es war ein langer und steiniger Weg bis zur staatlichen Unabhängigkeit Österreichs nach dem 2.Weltkrieg. Die wieder errichtete Republik war von den Siegermächten des 2. Weltkrieges, den USA, der Sowjetunion (UdSSR), Frankreich und Großbritannien besetzt und wurde lange Zeit erst gar nicht als souveräne Verhandlungsmacht anerkannt. Insgesamt mussten die Österreicherinnen und Österreicher 10 Jahre lang warten bis am 15. Mai 1955 dann endlich der Staatsvertrag unterzeichnet wurde und Österreich wieder ein souveräner Staat ohne Besatzungsmächte war. Aber wodurch gelang dieser Durchbruch nach so langer Pattsituation?

Die Neutralität als Schlüsselmoment für die Verhandlungen

Erst der Vorschlag der österreichischen Verhandler, sich als neutraler Staat zu deklarieren, eröffnete neuem Spielraum in den Verhandlungen über einen Staatsvertrag, der schließlich am 15. Mai 1955 unterzeichnet wurde. Der Vorschlag Neutralität war ein geschickter Schachzug der österreichischen Verhandler. Er bediente punktgenau die machtpolitischen Interessen der Großmächte USA und der UdSSR und erzeugte neue Verhandlungswerte, die neuen Schwung in die festgefahrenen Verhandlungen brachten. Dadurch war es möglich, für alle beteiligten Parteien einen Verhandlungserfolg zu ermöglichen.


Die UdSSR erreichte ihr Verhandlung Must-have, den Beitritt Österreichs zu einem westlichen Bündnis zu verhindern. Auch die USA konnten mit einer österreichischen Neutralität gut leben, da eine österreichische Beteiligung an dem westlichen Militärbündnis nicht als entscheidender Faktor angesehen wurde. Österreich hingegen konnte sein Ziel der staatlichen Unabhängigkeit mit der Erklärung der Neutralität realisieren.

Welche Strategien führten für Österreich zum Verhandlungserfolg?

Die Neutralität war aber nicht der alleinige Grund für die erfolgreichen Verhandlungen mit den Großmächten. Obwohl die angewandten Strategien auf dem politischen Parkett vollzogen wurden, können einige davon genauso als effektive Beispiele im Rahmen von geschäftlichen Verhandlungen herangezogen werden. Diese Strategien sind bei genauerer Betrachtung der Staatsvertragsverhandlungen hervorzuheben:

Werte und Handlungsspielräume schaffen


Heute würde man das Vorgehen von Bundeskanzler Julius Raab, Außenminister Leopold Figl und den weiteren Verhandlern als integrative Strategien bezeichnen. Hier geht es darum, durch die Beachtung der eigenen und fremder Interessen Werte zu schaffen, die anschließend unter den Parteien verteilt werden können. Voraussetzung für ein Gelingen ist offene Kommunikation nach innen und außen. Erst durch eine genaue Analyse der Interessen der Großmächte USA und UdSSR konnte der Wert „Neutralität“ geschaffen werden. Dieser Verhandlungswert war mit den Machtinteressen beider Großmächte vereinbar. Die österreichischen Verhandler wussten dies und erreichten durch die Schaffung von Handlungsalternativen und dem Konsens, der durch die Neutralitätserklärung möglich wurde ihr Verhandlungsziel der staatlichen Unabhängigkeit.

Beziehungspflege

Österreich musste als kleine Nation auch darauf achten, die Verhandlungspartner nicht als wirtschaftliche und politische Partner zu verlieren. Durch die Schaffung einer Win-Win-Situation durch die Option Neutralität blieb Österreich den ganzen Kalten Krieg über in einer Vermittlerrolle zwischen Ost- und Westmächten. Viele bedeutsame politische Gipfel fanden fortan in Wien statt, bei den Krisen entlang des Eisernen Vorhangs in den Jahren 1956 (Ungarnaufstand), 1968 (Prager Frühling), 1980 (Polenkrise) und 1990/91(Zerfall des Eisernen Vorhangs) konnten österreichische Politikerinnen und Politiker immer wieder zwischen Vertreterinnen und Vertretern der USA und der UdSSR vermitteln. Verhandlungen enden auch im wirtschaftlichen Kontext nur selten mit dem Abschluss einer bestimmten Verhandlungsrunde. Die Beziehungen zu seinen Partnerinnen und Partnern aufrecht zu erhalten, ist immer im Interesse aller Beteiligten und führt zu langfristigen Erfolgen, von denen nachhaltig profitiert werden kann.

Die Chancen einer Verhandlung nutzen

Österreich „erkaufte“ sich mit der Verpflichtung zur Neutralität seine staatliche Unabhängigkeit. Aber im Laufe der Jahre wurde die Neutralität immer mehr zu einem Mittel, das der österreichischen Politik eine aktive Außenpolitik ermöglichte (am offensichtlichsten durch den späteren Bundeskanzler Bruno Kreisky). Auch für Verhandlungen im geschäftlichen Kontext gilt: Handlungsalternativen, die im Rahmen einer spezifischen Verhandlung als Handlungsalternative und nicht als primäres Ziel erscheinen, können bei genauerer und langfristiger Betrachtung und sehr erfolgreich sein.

Neuartige Lösungswege und Werte sind gefordert

Was können wir aber nun aus diesem historischen Beispiel der österreichischen Staatsvertragsverhandlungen für unseren Verhandlungsalltag im Hier und Jetzt mitnehmen? Verhandlerinnen und Verhandler jeder einzelnen Branche sollten sich die Frage stellen, welche Handlungsalternativen für sie einen „Neutralitätsmoment“ haben könnten. Wer an Elementen und Vorschlägen arbeitet, die bislang noch unverbraucht sind, die aber gleichzeitig auch die Bewertung und Deutung der Verhandlungssituation von Grund auf verändern, hat die besten Chancen, neue Werte zu schaffen, die allen Beteiligten Verhandlungserfolge bescheren können. Gerade in einem immer kompetitiver werdenden ökonomischen Umfeld, einer zunehmend global agierenden Wirtschaft und einem generellen Anstieg der Komplexität von wirtschaftlichen Verhandlungen haben unverbrauchte Lösungsansätze und „Out of he Box“-Denken ungeahnte Potentiale.

Von der Politik zur Wirtschaft

Auch wenn wir, anders als die österreichischen Verhandler, nicht zwischen den Positionen der unterschiedlichen Großmächte eingezwängt sind, so kommen die Gefahren und Hemmnisse heutzutage von anderer Stelle. Weniger politische als zunehmend ökonomische Rahmenbedingungen wie Rohstoffpreise, problematische Logistikketten und Fachkräftemangel haben heutzutage maßgeblichen Einfluss auf Verhandlungen und engen Handlungsspielräume entscheidend ein.

Wie auch die damalige österreichische Bundesregierung wandern derzeit viele Verhandlerinnen und Verhandler und ihre Unternehmen durch ein dunkles Tal, das ausweglos erscheint. Doch das Beispiel des österreichischen Staatsvertrages zeigt auch: Wer dazu bereit ist, neue Wege zu beschreiten, hat am Ende die Chance, stärker als zuvor aus der Krise herauszukommen.

Autoren: Das En GardE Trainerteam