Der erste Eindruck zählt

Der süße Duft von Apfelstrudel steigt Ihnen in die Nase. Unweigerlich denken Sie an Oma und ihre legendären Backkünste. Aber Sie denken nicht bloß an die Person. Sie haben einen ganzen Film, mit dazugehörigen Emotionen im Kopf. Das, was hier ganz unbewusst und automatisch passiert, nennt man Priming und jeder von uns kennt es.

Primingeffekte beeinflussen uns auch im Verhandlungsalltag. Ihnen ist das sicher auch schon einmal untergekommen. Ein völlig überzogenes Einstiegsgebot der Gegenseite. Sie weisen es sofort zurück und machen einen deutlich realistischeren Gegenvorschlag. Dennoch wird diese Handlung einen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Verhandlungen nehmen. Sie entfaltet eine suggestive Wirkung, man spricht von Priming, genauer gesagt von Anchoring.

Was sind Primes?

Sogenanntes Priming kann viele Formen annehmen. Ein bestimmtes Wording, eine Farbe, ein Geruch, eine bestimmte Verhaltensweise kann suggestive Wirkung entfalten. Zumindest auf theoretischer Ebene können Primes also das Gegenüber in eine bestimmte Richtung lenken oder zumindest eine bestimmte eigene oder fremde Verhaltensweise deutlich wahrscheinlicher machen als andere. Offensichtlich sind diese in der Werbung wahrnehmbar, in einer Verhandlungssituation laufen diese Effekte meist unbewusst ab- abhängig von dem Verhalten der Personen.

Psychologie und Wirtschaft

Priming- und Ankereffekte wurden das erste Mal von Amos Tversky und Daniel Kahnemann in den 1970er Jahren festgestellt. Für die empirisch bewiesene Erkenntnis, dass Entscheidungen (gerade im wirtschaftlichen Kontext) nicht immer rational und logisch getroffen werden, erhielt Kahnemann im Jahr 2002 als Psychologe den Nobelpreis für Wirtschaft. In verschiedenen Studien (die Bekannteste finden Sie hier) kamen die beiden zu dem Ergebnis, dass Ankerinformationen maßgeblichen Einfluss auf die Einschätzung der Teilnehmenden nahmen.

 

Primes als evolutionärer Vorteil

Aber warum ist unser Gehirn, das ansonsten zu Höchstleistungen fähig ist, derartig beeinflussbar? Menschen mussten im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte oft schnelle Entscheidungen treffen, zum Beispiel um nicht im Bauch eines Säbelzahntigers zu enden, aber auch um nicht stundenlang mit scheinbar einfachen Entscheidungen zu verbringen. Menschen tendieren zur so genannten „kognitiven Leichtigkeit“. Das ist im Alltag sehr hilfreich und erleichtert einige Arbeitsschritte, führt aber in bestimmten Situationen auch zu Fehleinschätzungen und macht Manipulation möglich.

Priming in der Verhandlungswelt: Anchoring

Zurück zu unserem Beispiel des überhöhten Angebots zu Beginn des Artikels: Auch in der Geschäfts- und Verhandlungswelt spielt Priming eine große Rolle. Im Bereich der geschäftlichen Verhandlung ist vielen Verhandlerinnen und Verhandlern der so genannte Ankereffekt ein Begriff. Wer ein möglichst hohes Einstiegsangebot oder eine möglichst hohe Einstiegsforderung abgibt, setzt einen Anker oder eine Benchmark, die den restlichen Verlauf der Verhandlung beeinflusst.

Vereinfacht am Beispiel eines Autokaufs dargestellt: Je höher der Anker (Einstiegspreis) ausgeworfen wird, desto höher am Ende der Verkaufspreis. Der Ankervorschlag der Partei, die das erste Angebot abgibt, hat sogar eine Auswirkung auf den Verhandlungsprozess, wenn die Gegenseite den Vorschlag empört als zu hoch zurückweist. Ist es also immer sinnvoll, auf einen aggressiven Anker in Form einer möglichst hohen Forderung zu setzen?

Bei einmaligen Verhandlungen kann ein aggressiver Anker Sinn machen, aber: Welche Verhandlungen sind heutzutage noch singuläre Ereignisse? In einer globalisierten, digitalisierten und schnelllebigen Wirtschaftswelt haben gute und langfristige Beziehungen einen unschätzbaren Stellenwert. Aber lohnt es sich tatsächlich den Verhandlungspartner mit einem überzogen hohen Ankervorschlag zu verärgern und eventuell als Geschäftspartner zu verlieren? Das muss jeder Verhandler und jede Verhandlerin schlussendlich selbst entscheiden.

Abwehr von Ankerprimes und Gegenstrategien

Wie Sie optimal auf einen Primingversuch in Form eines Ankers reagieren? Das ist in höchstem Maße abhängig von der jeweiligen Verhandlungssituation. Mögliche Strategien reichen vom Setzen eines Gegenankers bis hin zu Check-Fragen, die darauf abzielen, die Legitimation des gesetzten Ankers zu hinterfragen. Ankervorschläge sollten auch immer mit objektiven Vergleichskriterien, wie zum Beispiel mit üblichen Marktpreisen in Verbindung gebracht werden. In unseren En GardE Verhandlungstrainings lernen Sie anhand von Beispielen aus der Verhandlungspraxis, wie Sie Ankerstrategien erfolgreich anwenden und adäquat auf sie reagieren.

Autoren: Das En GardE Verhandlungsteam